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Die aktuellen Verschärfungen im Verhältnis zu den Feststellungen in den Asylentscheiden

von Annelies Djellal-Müller

Wichtig für das Verständnis der vom Staatssekretariat für Migration (SEM) am 23. Juni 2016 öffentlich bekannt gemachten Praxisverschärfungen sind zunächst die folgenden drei Artikel aus dem aktuellen Schweizer Asylgesetz (AsylG)1:
 
Art. 3 Flüchtlingsbegriff

  1. Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
  2. Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
  3. Keine Flüchtlinge sind Personen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Vorbehalten bleibt die Einhaltung des Abkommens vom 28. Juli 19511 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention).2
  4. Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.

Art. 7 Nachweis der Flüchtlingseigenschaft

  1. Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen.
  2. Glaubhaft gemacht ist die Flüchtlingseigenschaft, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält.
  3. Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden.

Art. 54 Subjektive Nachfluchtgründe

    Flüchtlingen wird kein Asyl gewährt, wenn sie erst durch ihre Ausreise aus dem Heimat- oder Herkunftsstaat oder wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise Flüchtlinge im Sinne von Artikel 3 wurden.

Seit Ende 2015 sind Berater*innen und Freiwillige, die mit eritreischen Flüchtlingen arbeiten, vermehrt mit Negativentscheiden mit Wegweisungsverfügung, ausgestellt vom Staatssekretariat für Migration (SEM), konfrontiert. Diesen Umstand hat der Verein Give a Hand.ch in Zusammenarbeit mit dem Polit- und Wirtschaftsmagazin „Rundschau“ des Schweizer Fernsehens am 6.01.2016 öffentlich thematisiert.2

Die Negativentscheide wurden zunächst mit der angeblich nicht glaubhaft gemachten illegalen Ausreise aus Eritrea begründet. Zwar hält das Staatssekretariat im Zusammenhang mit der Flucht vor dem National Service und der daraufhin erfolgten illegalen Ausreise in seinen Asylentscheiden regelmässig Folgendes fest:

„Die eritreischen Behörden unterstellen solchen Personen grundsätzlich eine regierungsfeindliche Haltung und bestrafen diese bei einer Rückkehr nach Eritrea sehr streng, wobei sich die Strafmassnahmen durch ein hohes Mass an Brutalität auszeichnen. Damit haben illegal ausgereiste Eritreer begründete Furcht, bei einer Rückkehr nach Eritrea ernsthaften Nachteilen im Sinne von Art. 3 AsylG ausgesetzt zu werden, womit subjektive Nachfluchtgründe vorliegen und sie gemäss Art. 54 AsylG als Flüchtlinge vorläufig in der Schweiz aufzunehmen sind.“3
Zudem heisst es:

„Ein legales Verlassen Eritreas ist grundsätzlich lediglich mit einem gültigen Reisepass und einem zusätzlichen Ausreisevisum möglich. Ausreisevisa werden von den eritreischen Behörden bereits seit mehreren Jahren nur noch unter sehr restriktiven Bedingungen und gegen Bezahlung hoher Geldbeträge an wenige als loyal beurteilte Personen ausgestellt, wobei Kinder ab elf Jahren, Männer bis zum Alter von 54 Jahren und Frauen bis 47 Jahren grundsätzlich von der Visumserteilung ausgeschlossen sind.“4

Obwohl das SEM in seinen Asylentscheiden bis dato an diesen Ausführungen festhält, die bis Ende 2015 wegen der durch die Flucht entstandenen, subjektiven Nachfluchtgründe nach Art. 54 AsylG in den allermeisten Fällen wegen der Unzumutbarkeit der Rückführung noch eine vorläufige Aufnahme aus politischen oder humanitären Gründen rechtfertigten, dreht es seit Ende 2015 den Spiess nun regelmässig zu Ungunsten der Asylsuchenden um.
In einem Negativentscheid mit anschliessender Wegweisungsverfügung heisst es dann:

„Genauso wie die Vorfluchtgründe muss von Gesetzes wegen jedoch auch das Vorliegen von subjektiven Nachfluchtgründen bewiesen oder zumindest glaubhaft gemacht werden (Art. 7 AsylG). Davon werden Sie trotz der nur eingeschränkten legalen Ausreisemöglichkeiten aus Eritrea nicht entbunden. Es findet auch im eritreischen Kontext hinsichtlich des Nachweises oder der Glaubhaftmachung von subjektiven Nachfluchtgründen im Zusammenhang mit einer sogenannten Republikflucht keine Umkehr der gesetzlichen Beweis- bzw. Substantiierungslast statt.“5

Gestützt wird diese Praxis auf zwei Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer), die sich jedoch auf ganz spezifische Fälle beziehen und auch aus Sicht von Michael Pfeiffer, Jurist bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH), keineswegs eine durchgängige Praxisänderung rechtfertigen können. Die Betroffenen, so Jurist Pfeiffer, verliessen ihr Land meist nachts unter Lebensgefahr (an der Grenze zu Äthiopien haben die Wachen Schiessbefehl), sodass dieses Erlebnis gerade für Minderjährige und junge Erwachsene oft traumatisch sei. Es sei deshalb angesichts der Erkenntnisse aus den Berichten von UNO und Amnesty International sowie der zuvor gemachten, eigenen Feststellungen zur illegalen Ausreise nachgerade zynisch, dem Flüchtling die Beweislast für eine kaum objektiv beweisbare Angelegenheit, um die es sich bei einer illegalen Ausreise naturgemäss handle, aufzubürden. Hinzu kommt, dass trotz der Wegweisungsverfügung keine Möglichkeit besteht, die Betroffenen tatsächlich in ihren Herkunftsstaat zurückzuschaffen. Selbst das SEM räumt ein, dass das eritreische Regime keine zwangsweise rückgeschafften Personen zurücknähme. Im Faktenblatt Eritrea vom 23.06.2016 steht aber zu lesen:

„Eine freiwillige Rückkehr nach Eritrea ist jederzeit möglich. Diese Möglichkeit wird von den betroffenen Personen teilweise auch genutzt.“6

Das SEM bleibt aber eine Information darüber schuldig, wie viele eritreische Flüchtlinge in den letzten Jahren freiwillig in ihren Herkunftsstaat zurückgereist sind. Laut dem Bericht von Amnesty International ist eine Rückreise auf legalem Weg nur dann möglich, wenn der Betroffene zuvor auf dem Konsulat die 2%-Steuer entrichtet und in einem Schuldschreiben ausführlich zu den Gründen für seine Flucht aus Eritrea Stellung genommen hat.7 Im Hinblick auf noch in der Heimat verbliebene Familienangehörige ist es höchst fraglich, ob unter diesen Umständen tatsächlich freiwillige Rückreisen nach Eritrea stattgefunden haben. Auf Anfrage teilte uns die Rückkehrberatung der kirchlichen Kontaktstelle für Flüchtlinge (KKF) des Kantons Bern jedenfalls mit, dass in ihrem Zuständigkeitsbereich noch keine freiwillige Rückkehr nach Eritrea stattgefunden habe. Trotz der Praxisänderung des SEM müsse, so weiter, zunächst abgewartet werden, bis zur Situation in diesem Land objektive und glaubwürdige Informationen vorlägen.

Die oben skizzierte Praxisverschärfung hinsichtlich der illegalen Ausreise hat nun für „Eritreische Personen, die juristisch betrachtet erst durch ihre illegale Ausreise zum Flüchtling werden“8 und dadurch bislang „den Tatbestand von Art. 54 AsylG erfüllten, was bedeutete, dass sie zwar von der Asylgewährung ausgeschlossen“ waren, jedoch vorläufig aufgenommen wurden, die Konsequenz, dass „Personen, die noch nie für den Nationaldienst aufgeboten worden sind, vom Nationaldienst befreit oder aus dem Nationaldienst entlassen wurden, […] neu (auch nicht mehr auf Grund subjektiver Nachfluchtgründe) als Flüchtlinge anerkannt“ werden. „Entsprechend müssen sie die Schweiz verlassen, sofern sie nicht in die Kategorie C fallen.“9 Die „Kategorie C“ umfasst „eritreische Personen, welche nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Sie „müssen die Schweiz grundsätzlich wieder verlassen.“ Im Rahmen der Prüfung, ob der Vollzug der Wegweisung angeordnet werden könne, sei gemäss gängiger Praxis und einschlägiger Rechtsprechung des BVGer abzuklären, ob für den Fall der Rückkehr begünstigende individuelle Umstände prognostiziert werden könnten. Ansonsten, so das SEM weiter, sei eine vorläufige Aufnahme zu verfügen.10 Diese Praxisänderung betrifft aber nicht, wie man meinen könnte, nur Minderjährige, Mütter oder ältere Menschen. Immer wieder sehen wir solche Negativentscheide auch bei jungen Erwachsenen im wehrdienstfähigen Alter. So wurde das Asylgesuch eines jungen Eritreers abgelehnt, der aus Sawa floh, weil er nicht zum College zugelassen wurde. Einer 23jährigen Frau wird von einem Richter des BVGer doch tatsächlich nahegelegt, nach der Rückreise „einen geringen Geldbetrag“11 zu entrichten, um einer allfälligen Bestrafung wegen Republikflucht zu entgehen. Nicht wenige Asylsuchende sind zurzeit ihrer Einreise in die Schweiz noch minderjährig. Sie verlassen das Land, bevor der Einberufungsbefehl zum National Service eintrifft. Nach Erreichen des 18. Altersjahres laufen diese Menschen Gefahr, unter dem Vorwand, sie seien noch nie zum Militärdienst aufgeboten worden, zurückgeschickt zu werden.

Wie das SEM in seinem Faktenblatt einräumt, hatte bislang keine Delegation, die im Rahmen einer Dienstreise die Zustände in Eritrea untersuchen sollte, Zugang zu den dortigen Hafteinrichtungen. Somit ist es ganz und gar unmöglich, mit Sicherheit auszuschliessen, dass dort keine Gefangenen wegen versuchter oder tatsächlicher Republikflucht einsitzen. Es ist demnach grob fahrlässig, ganze Gruppen von jungen Menschen dem Risiko einer Rückführung auszusetzen bzw. diese als „zumutbar“ zu bezeichnen. In seinem Faktenblatt beteuert das SEM, dass im Falle einer Wegweisung „gemäss gängiger Praxis und einschlägiger Rechtsprechung des BVGer abzuklären“ sei, „ob für den Fall der Rückkehr nach Eritrea begünstigende individuelle Umstände prognostiziert werden können (namentlich ein wirtschaftlich tragfähiges soziales oder familiäres Netz oder andere die wirtschaftliche Integration ermöglichende Faktoren)“.12 Lägen solche nicht vor, so sei „eine vorläufige Aufnahme wegen Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs zu verfügen.“

Während das SEM in Bezug auf die Glaubhaftmachung der illegalen Ausreise bzw. anderen asylrelevanten Vorbringen höchst skeptisch ist, erstaunt die grosszügige Auslegung des Begriffs „begünstigende individuelle Umstände“. Uns liegt die von Jurist Michael Pfeiffer verfasste Replik im Zusammenhang mit einer Bundesverwaltungsgerichtsbeschwerde vor, nach der es offenbar ausreichte, dass der zurzeit seiner Einreise minderjährige Flüchtling in der Befragung die Existenz noch in Eritrea verbliebener Familienangehöriger erwähnte. Das SEM wertete diesen Umstand in seinem Negativentscheid als hinlänglichen Beweis für die Existenz „begünstigender individueller Umstände“ und somit für die Zumutbarkeit einer Rückreise des Betroffenen nach Eritrea, nachdem es zuvor sämtliche Angaben desselben betreffend seiner illegalen Ausreise angezweifelt hatte. Offensichtlich wurde hier also nicht „in Dubio pro Reo“, sondern vielmehr „in Dubio pro SEM“ entschieden.

Fazit:

Die Praxisverschärfungen, die das Staatssekretariat seit dem vergangenen Jahr systematisch und entgegen den Beteuerungen des Vorgesetzten Gattikers sowie Bundesrätin Simonetta Sommaruga vorbereitet hatte und durch diverse Bundesgerichtsentscheide abstützen liess, sind politisch motiviert. Die Erkenntnisse der „Fact Finding Mission“ sind unsubstanziiert und stehen in krassem Widerspruch zu den Erkenntnissen aus dem UNO-Menschenrechtsbericht. Die eritreischen Asylsuchenden werden damit zum Bauernopfer einer stetig restriktiver werdenden Schweizer Flüchtlingspolitik, welche die Situation in Eritrea hartnäckig und wider besseres Wissen zu verharmlosen sucht. Damit steht die Schweiz im Übrigen nicht allein da, wie die Aussagen des dänischen Berichterstatters im Rundschaubeitrag aus dem Jahr 2015 eindrücklich belegen.13


1 Das AsylG online.
[Stand: Okt. 2016]
2 vgl. SRF: Bund weist massiv mehr Eritreer weg
[Stand: Okt. 2016]
3 Dies ist in einleitenden Begründungen zu diversen Asylentscheiden zu lesen.
4 Ebd.
5 Ebd.
6 vgl. Faktenblatt Eritrea, hg. vom SEM
7 vgl. https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/…/afrika/eritrea/160815-eri-rueckkehr.pdf
[Stand: Okt.2016]
8 zitiert aus https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/…/eri/ERI-ber-easo-d.pdf, Aktualisierung Abschnitt 5 „illegale Ausreise“
[Stand: Sep. 2016]
9 zitiert aus https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/…/eri/ERI-ber-easo-d.pdf, aktualisierung Abschnitt 5
[Stand: Sep. 2016]
10 vgl. ebd.
11 So das Urteil des BVGer betr. F. Kesete, verfasst von Bundesrichter Fulvio Haefeli
12 zitiert aus https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/…/eri/ERI-ber-easo-d.pdf, Aktualisierung Abschnitt 5
[Stand: Sep. 2016]
13 vgl. http://www.srf.ch/news/international/eritrea-fluechtlinge-daenischer-experte-warnt-vor- eigenem-bericht
[Stand: Okt. 2016]

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